Bezugnehmend auf BVerfG, Urt. v. 31.10.2023, 2 BvR 900/22
Das Bundesverfassungsgericht hat am vergangenen Dienstag eine beachtliche Entscheidung getroffen: § 362 Nr. 5 StPO wurde für verfassungswidrig erklärt. § 362 Nr. 5 StPO regelte die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens wegen Mordes. Sollten neue Erkenntnisse in einem Mordfall vorliegen – bspw. neue technische Möglichkeiten für DNA-Analysen etc. – konnte ein Strafverfahren erneut gegen dieselbe Person geführt bzw. das Strafverfahren zu deren Ungunsten wieder aufgenommen werden.
Das grundlegende Problem, das dagegen spricht: Im deutschen Strafrecht gilt der Grundsatz, dass ausgenommen des Instanzenzuges nicht zwei Mal über dieselbe Sache entschieden darf. „Ne bis in idem“ nennt der Jurist den Grundsatz, „nicht zwei Mal in derselben Sache“ heißt der lateinische Satz übersetzt.
Doch wie ist das Urteil zu bewerten? Rechtspolitisch vermag es auf den ersten Blick zu überzeugen. Rechtsgrundsätze wie „ne bis in idem“ sind fundamentale Pfeiler eines Rechtsstaates. Ein Urteil schafft Rechtssicherheit und ein Angeklagter soll darauf vertrauen können, dass dieses Urteil besteht. Nicht zwei Mal in derselben Sache angeklagt werden zu können ist gerade Ausgang aus dem Willkürverbot eines Rechtsstaates, Art. 103 Abs. 3 GG.
Doch was bedeutet „ne bis in idem“ denn konkret?
Schauen wir uns zunächst die Genese des Art. 103 Abs. 3 GG an: Bereits im römischen Recht gab es zwar einen ähnlichen Grundsatz. Als 1949 das deutsche Grundgesetz geschaffen wurde, war aber keineswegs klar, dass ein solcher Grundsatz enthalten sein wird. In Anbetracht der Erfahrung der Zeit des Nationalsozialismus und deren (willkürlicher) Judikatur entschied man sich schließlich doch für die Aufnahme. Ein erster Vorschlag sollte hier aber heißen, dass ein Angeklagter nicht doppelt „bestraft“ werden kann. Mit Blick auf Zuständigkeitsprobleme bspw. zwischen Strafrecht und Disziplinarrecht wurde der Wortlaut aber von „bestraft“ zu „aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“ geändert. Bereits der Verfassungsgeber hatte sich also im Grunde auf „bestraft“ festgelegt und genau so weit geht auch der Rechtsgrundsatz „ne bis in idem“.
Wenn wir diese Erkenntnis nun aber § 362 Nr. 5 StPO übertragen, ergibt sich jedenfalls schon in einer ersten Konstellation kein Dissens: Ist der Angeklagte in einem früheren Verfahren freigesprochen worden, wurde er nicht „bestraft“. Das bedeutet, ein Mörder, dem ein Mord nicht nachgewiesen werden konnte und der deshalb freigesprochen worden ist, wurde nicht bestraft und gegen diesen müsste auch nach dem Grundsatz „ne bis in idem“ ein Strafverfahren erneut durchgeführt werden können. Mit Recht erhebt sich hier der Widerspruch, dass es keine Freisprüche auf Widerruf oder unter Vorbehalt geben dürfe. Das ist richtig und nicht zu beanstanden. Gleichwohl sind hierbei aber zwei Dinge zu beachten: Zum einen ist der Anwendungsbereich des § 362 Nr. 5 StPO mit den dortigen Delikten Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sehr eng umrissen und auf die niederträchtigsten Straftaten des StGB begrenzt. Mord nimmt bspw. dadurch, dass er keine Verjährungsfrist kennt, ohnehin bereits eine Sonderrolle im Kernstrafrecht ein.
Zum anderen wird hierbei außer Acht gelassen, dass § 362 StPO in den Ziff. 1 – 4 auch ohne die Nr. 5 Ausnahmen von dem Grundsatz „ne bis in idem“ zulassen. Es gibt also bereits – rein rechtsdogmatisch – Ausnahmeregelungen des Grundsatzes, die nur für den Fall von Kapitalstraften um die Nr. 5 erweitert werden. Nimmt man dies zusammen, so stellt § 362 Nr. 5 StPO keine wesentliche stärkere Einschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG dar.
Aufmerksame Leser dürften sich fragen, wie es denn mit bereits Verurteilten aussieht. Die obigen Ausführungen bezogen sich nur auf bereits freigesprochene Angeklagte. In der Praxis dürfte dies aber ohnehin keine Rolle spielen, da auf alle in § 362 Nr. 5 StPO genannten Straftaten die lebenslange Freiheitsstrafe steht. Schuldminderungsgründe sind in der Person begründet und würden bereits beim ersten Schuldspruch feststehen, sodass § 362 Nr. 5 StPO wohl ohnehin nur auf Freigesprochene Anwendung finden würde.Es zeigt sich daher, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keineswegs alternativlos war, auch wenn auf den ersten Blick der Grundsatz „ne bis in idem“ und deren Verbriefung im deutschen Grundgesetz unter Art. 103 Abs. 3 GG hier entgegen steht. Rechtspolitisch ist die Entscheidung gleichwohl nachvollziehbar. Für die Hinterbliebenen mag es wenig befriedigend sein, wenn technisch möglich ein Tötungsdelikt endlich nachgewiesen werden kann. Für die Justiz gibt sie gleichwohl eine eindeutige Regelung an die Hand: Ist die Tat angeklagt und abgeurteilt, bleiben neue Beweismöglichkeiten außer Betracht. Rechtssicherheit tritt mit Urteilsspruch ein und nicht nur durch das Ausbleiben technischer Innovation. Wie der Gesetzgeber nun § 362 StPO ändert und mit der Entscheidung umgeht, bleibt abzuwarten.